Mehr Material zur Aufführung DORF THEATER (Premiere 15.09, bis einschl. 24.09)
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Szenendetail © Julian Blight
Anke Hoffmann (AH): Was reizt dich, Laientheater aus der Innerschweiz auf eine urbane Bühne für performatives, experimentelles Theater zu bringen? Wo ist der Link?
Corsin Gaudenz (CG): Rein statistisch gesehen bedient das Laientheater ein enorm grosses Publikum. Und dafür, dass es ein grosses Publikum bedient, gibt es relativ wenig Forschung zur Ästhetik und Wirkweise dieser Kultur. Da hat mich interessiert, genauer hinzuschauen: Wie zeigt sich diese Kultur, wenn sich der Kontext verschiebt? Oft wird zwischen Populär- und Hochkultur – wie abgelutscht diese Begriffe auch immer sind – unterschieden und dabei andere Massstäbe angesetzt.
AH: Du sagst, das Publikum ist sehr gross. Wie gross?
CG: In der Zentralschweiz, wo ich viel recherchiert habe, gibt es tatsächlich in fast allen Gemeinden einen theaterspielenden Verein. Manche Vereine wurden explizit für’s Theater spielen gebildet, andere – wie Skivereine, Jodelvereine, Turnvereine – machen eben auch Theater. In der Regel produzieren die Theatervereine einmal im Jahr ein Stück und führen das zwischen fünf und 20 Mal auf. Die Zuschauerzahlen, die sie damit erreichen, sind extrem unterschiedlich: Im Muothathal sind es beispielsweise 9’000 Zuschauer. Aber es gibt auch kleinere Vereine, die in ganz winzigen Räumen spielen oder nur zwei Sonntagsaufführungen in der Turnhalle haben, für die das ganze Dorf kommt.
AH: Wie erklärst du dir diese Popularität für das Theater spielen auf dem Land?
CG: Hmm, da bin ich fast überfragt … Es gibt unterschiedliche Erklärungsversuche, beispielsweise vom ursprünglichen Spieltrieb in Rollen zu schlüpfen, sich zu verwandeln. Und es gibt immer wieder Argumente, die den Reiz der sozialen Durchmischung hervorheben: dass sich Alt und Jung begegnen, dass der Bäcker mit dem Informatiker am Abend zusammen spielt. Das gilt ganz allgemein für die Vereinskultur. Für eine eher städtische Besucherschicht, wie hier an der Gessnerallee, sind das vielleicht nicht so stichhaltige Argumente. Dennoch finde ich es immer wieder interessant zu hören: Wir spielen halt gern!
AH: Welche Stücke werden dort eigentlich gespielt?
CG: Die Stücke sind alles Mundart-Bearbeitungen, teilweise von englischen Komödien – die sind sehr im Trend. Das ist auch recht pragmatisch, weil es kein grosses Know-How vom Geschichten erzählen oder vom Inszenieren gibt, weil es eben eine komplette Laienkultur ist. Man nimmt diese Stücke, in denen alles vorgegeben ist: Wer von wo wie auf die Bühne kommt, wer auftritt, wie man was zu sagen hat. Man denkt sich: Wenn man das genau so macht, kommt es irgendwie gut.
AH: Du hast sehr viele Theatervereine besucht bei deinen Recherchen. Hat dich etwas überrascht über das Laientheater?
CG: Was mich an dem ganzen Phänomen unglaublich interessiert, ist die Ambivalenz. Es war nie so, dass ich da hingegangen bin und gedacht hab: ‚Wow! das ist alles so wahnsinnig toll und die haben so einen Spass miteinander‘. Teilweise ist das Theaterspiel wirklich schlecht, und es gibt sehr viel Rassismus und Sexismus innerhalb der Stücke, innerhalb der Strukturen. Gleichzeitig gibt es aber eine Form von Austausch gerade zwischen Machern und Publikum, die man sich an etablierten Bühnen einfach nur wünschen kann. Man schafft Vermittlungsstellen und Museumspädagogik ... alles, was den Kurzschluss zwischen Kunst und Rezipienten fördert, boomt. Doch beim Laientheater hat man das Gefühl, das ist überhaupt nicht nötig. Es fasziniert, wie da alles funktioniert ohne komplizierte Übersetzungsleistungen und man denkt sich: So muss das sein. Und gleichzeitig kommen doch Zweifel, welchen Wert die Kunst, also das Theater spielen beim Laientheater überhaupt hat. Meine Vermutung ist, dass das Theater spielen an sich zu einer sozialen Praxis wird und der Werkcharakter in den Hintergrund gerät.
AH: Was erwartest du hier in Zürich und vom Publikum?
CG: Ich hoffe, dass es auch hier zu einem Austausch kommt. Mir ist wichtig, dass auch Mitglieder der Zentralschweizer Vereinen zum Zuschauen kommen – ebenso wie das Stammpublikum städtischer Prägung mit einer anderen ästhetischen Bildung. Ich hoffe sehr, dass beide Publikumsgruppen in der Gessnerallee zusammen treffen.
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Die umfangreiche Projekt-Website Dorftheater bietet Informationen zum Kontext Zentralschweizer Volkstheater, einen BLOG, Links und das ganze Team:
www.projektdorftheater.ch
Warum Laientheater?
Das Laientheater in der Zentralschweiz ist eine äusserst lebendige Tradition. Immerhin 126 Vereine sind dem Regionalverband Zentralschweizer Volkstheater (RZV) angeschlossen und schätzungsweise 1500-2000 Mitglieder engagieren sich im Verband. Die Vorstellungen werden in Mundart vor dem lokalen, dörflichen Publikum gespielt und sind so beliebt, dass sie fast immer zum Bersten gefüllt sind. Die Produktionen sind nicht subventioniert, sondern arbeiten eigenwirtschaftlich. Sie leben vom freiwilligen Engagment der theaterbegeisterten Laien, die von der Bühnenarbeit bis zum Kuchenbuffet zahlreiche Aufgaben übernehmen und so die Aufführungen zu einem besonderen Erlebnis für das ganze Dorf werden lassen.
Die fünf Partner-Laienvereine der Innerschweiz für das DORF THEATER
Was sind lebendige Traditionen?
Die UNESCO-Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturgutes bezieht sich auf den Schutz von Bauwerken und bildnerischen Werken. Dieses Konzept wurde von vielen Staaten als westeuropäisch-elitäre, auschliessende Perspektive kritisiert. Im Sinne eines erweiterten Kulturbegriffs und der Anerkennung einer Vielfalt kultureller Ausdrucksformen wurden Konventionen zum Schutz des immateriellen Kulturerbes beschlossen. Damit sind mündlich überlieferte Traditionen, Künste wie Tanz, Performance, Musik, Rituale und Feste oder Wissen im Umgang mit der Natur und traditionelle Handwerkstechniken eingeschlossen. Die 2003 verschiedete Konvention ist die erfolgreichste der UNESCO-Geschichte bisher.
Auch wenn das Abkommen zum Schutz des immateriellen Kulturgutes in der Formulierung der UNESCO nicht unkommentiert bleibt, ratifizierte die Schweiz 2008 das Abkommen und erstellte durch das BAK in den folgenden Jahren einen Katalog, ein Inventar der «lebendigen Traditionen» - was nicht anderes bedeutet als immaterielle Kultur. Dieses Inventar wird fortschreitend aktualisiert und nun auch um urbane und zeitgenössische Traditionen, performative Handlungen und Rituale ergänzt - in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Zivilgesellschaft der Schweiz ist aufgefordert die Liste der Kulturgüter selbst zu erweitern.
Einen Gastauftritt in der Gessnerallee wird auch der "trojanische Pegasus" haben, ein Vermittlungsprojekt zur Erforschung des nicht-professionellen Freilichttheaters der Schweiz. © Yannik Bürkli
Konzept + Regie
Corsin Gaudenz
(*1980 in Hallau) realisiert vorwiegend Arbeiten im Bereich Theater (Performance, Tanz, Musiktheater) als Regisseur, Choreograph und Dramaturg. Studium an der Hochschule für Musik und Theater in Zürich (HMT) zum Schauspieler. Ensemblemitglied des Theater für den Kanton Zürich (bis 2006). Es folgen zwei Semester an der Universität Zürich in Kunstgeschichte, dann Studium an der Universität der Künste in Berlin mit Abschluss MA of Arts in «Solo/Dance/Authorship» (2009). 2008 erhält er einen Werkbeitrag von Stadt und Kanton Schaffhausen. 2013 einen Anerkennungspreis der Stadt Zürich für die Arbeit «Time Is On My Side». Seine letzte Arbeit «Tell» hatte im Mai 2015 Premiere und tourt durch die Schweiz. Das Kinderstück «Dingdonggrüezi» mit dem Theater Sgaramusch war in Bern, Basel, Aarau, Schaffhausen und Zürich zu sehen und wurde im Sommer 2015 ans Zürcher Theaterspektakel eingeladen.
www.corsingaudenz.ch
Mit seinem Stück «Tell» (2015) eröffnete Corsin Gaudenz (s)eine Trilogie über Praktiken der immateriellen Kultur.
Hier eine Pressestimme: Tom Hellat über Tell, Tages Anzeiger (2015)
Die neuste Produktion «Tell» beginnt unverkrampft mit einem leisen Glockengeläut im Hintergrund – keine Angst vor Klischees also. Regisseur Corsin Gaudenz und Dramaturgin Trixa Arnold erzählen Schillers Geschichte sehr ruhig, sehr unverstellt. Dabei geht es ihnen nicht um eine Heldenerzählung, sondern um Projektionen ins Innere der Figuren. (…) Randfiguren treten in den Mittelpunkt, Fussnoten werden zum Haupttext erhoben (…) Figuren werden zu Menschen. Ein so unverkrampftes Dur und Moll ist selten zu hören in neuer Musik. (…) Der Komponist Ilja Komarov buchstabiert keine Kataloge durch. Vielmehr zwinkert stets der Schalk durch die Melancholie der Musik. Am ehesten liesse sich das als konservative Avantgarde. Von beiden Welten das Beste: hier die Würde historischer Ausdrucksformen, und dort das Recht sie zu mischen, zu brechen und zu einem neuen Klangbild zu formen. (…) Das ist nach Jahrzehnten der überdrehten Dekonstruktion viel. Sehr viel. Vielleicht sogar ein Zeichen für eine neue Moderne.
Alle weiteren Kurzbiografien finden sich auf der Projektwebsite: projektdorftheater.ch