Gessnerallee
Zürich


Alain Badiou, Zürich 2015 © Ursula Häne

Ein Auszug aus dem WOZ-Interview, geführt von Andreas Tobler aus Anlass von Badiou's Vortrag in Zürich bei der ASZ, Oktober 2015

WOZ/Andreas Tobler: Alain Badiou, Sie sind überzeugter Marxist. Haben Sie nie am Kommunismus gezweifelt? Auch nicht nach 1989?
Alain Badiou: Krisen in meinem Leben gab es nur bis zum Mai 1968. Zu diesem Zeitpunkt war ich 31 Jahre alt und hatte durchaus Momente des Zögerns, des Zweifelns und der Leidenschaftslosigkeit erlebt. Aber dann kam der Mai 1968.

WOZ: Und änderte alles?
So ist es. Mit der 68er-Bewegung eröffnete sich für mich die Möglichkeit, die Politik mit Menschen zu diskutieren und zu organisieren, die komplett anders als ich waren: Fabrikarbeiter aus Marokko und Afrika, von denen viele weder lesen noch schreiben konnten. Menschen also, die völlig fern von mir waren, der ich eine Eliteuni absolviert hatte und einem bildungsbürgerlichen Elternhaus entstammte. Und dennoch konnte ich zusammen mit diesen Menschen, die ganz anders als ich sozialisiert worden waren, etwas organisieren. Der Mai 1968 war für mich eine Erweckung. Seither bin ich überzeugt, dass Universalität möglich ist – gerade angesichts der Unterschiedlichkeit der Menschen. Eine egalitäre Weltgemeinschaft muss also möglich sein.

WOZ: Auch im heutigen Europa, das vor gewaltigen Herausforderungen steht – nicht zuletzt angesichts der Flüchtlingskrise?
Ich bin immer wieder schockiert, wenn Europäer von einer Flüchtlingskrise sprechen. Die Menschen, die gegenwärtig zu uns kommen, die sind in der Krise, nicht wir Europäer. Und wenn man die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak als gewaltiges Problem beschreibt, dann muss man sich die globale Situation vor Augen halten: Wir leben in einer Welt, in der das Proletariat nomadisch geworden ist. In Frankreich hatten wir bereits eine Million Portugiesen und wohl ebenso viele Algerier, die auf der Suche nach Arbeit waren. Seit einigen Jahren kommen nun Menschen aus Eritrea und anderen afrikanischen Ländern zu uns. Wenn man angesichts dieser Migrationsbewegungen bei einer Zahl von vielleicht 400 000 Flüchtlingen von einem Problem spricht, dann ist das reine Ideologie. Nicht zuletzt muss man sich immer vor Augen führen, dass der Westen wesentlich mitverantwortlich für die Situation im Nahen Osten ist. Man denke nur an die Zerstörung des Irak durch die Amerikaner.

WOZ: Aber letztlich ist es doch so, dass Europa heute nur dann Verantwortung übernimmt und Zugeständnisse macht, wenn damit die eigenen Privilegien nicht gefährdet werden.
Das ist zurzeit so. Man kann aber schon heute etwas tun, etwa dafür sorgen, dass die Flüchtlinge einen minimalen Schutz erhalten. Das ist unsere Pflicht. Zudem kann man den Europäern die Realitäten der Menschen aufzeigen, die zu uns kommen. Das hilft immer im Kampf gegen ideologische Phantasmen. Nicht zuletzt muss man gegen den Nationalismus kämpfen, der jedwede Universalität verhindert. Selbstverständlich haben Sie aber recht, wenn Sie sagen, dass wir in einem Kontext leben, der nicht gerade zuträglich ist für ein Ereignis, wie ich es im Mai 1968 miterlebte – als es eine Öffnung gab und ein fundamentaler Wandel im Sinn des Universalismus möglich wurde.

WOZ: Unsere Welt ist global, aber geprägt von Abschottung und Segregation.
Heute gibt es einen starken Kult der Privatinteressen, eine Sehnsucht nach dem ruhigen Leben und eine übertriebene Angst vor jeglichen Risiken. Wir leben in einer konservativen Welt – auch wenn man nicht genau weiss, was eigentlich konserviert werden soll. Ausser dem Kapitalismus und den kleinen Errungenschaften des angenehmen Lebens. Letztlich ist es gerade der Wunsch nach Ruhe, Sicherheit und Wohlstand, der schwerwiegende Folgen für die Politik hat, die meiner Meinung nach einen starken Bruch nötig hätte.

WOZ: Die Erfahrungen der vergangenen 25 Jahre sprechen gegen einen solchen Bruch.
Das stimmt. Wenn es keine echten Ereignisse wie den Mai 1968 gibt, die man nicht vorhersehen und auch nicht erzwingen kann, ist es sehr schwierig, eine politische Subjektivität im Sinn des Kommunismus salonfähig zu machen. Dennoch gibt es mindestens zwei Dinge, die man heute tun kann. Es gibt einerseits die Ebene der Ideen: Man kann sich an einer Rehabilitierung des Kommunismus beteiligen und politische Ziele im Sinn des Marxismus neu formulieren.

WOZ: Das wäre die Ebene der Theorie.
Genau. Und dann gibt es die Praxis. Heute gibt es zahlreiche Organisationen, die sich für Migrantinnen, die Sans-Papiers oder für die Ziele des Feminismus einsetzen. Solche Organisationen sind sehr wichtig, aber sie betreiben noch nicht das, was ich Politik nenne. Zurzeit gibt es eine Praxis, die noch nicht Politik ist, und eine Theorie, die gegenwärtig über der Politik steht. Was es also bräuchte, wäre eine Annäherung zwischen Theorie und Praxis, indem man die Vermittlung der kommunistischen Idee organisiert – und so Politik möglich macht.

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Die letzte Publikation von Alain Badiou im Passagen Verlag:
Alain Badiou: Philosophie des wahren Glücks
Herausgegeben von Peter Engelmann
Reihe Passagen forum

Alain Badiou unternimmt nach seinem Lob der Liebe den Versuch einer Definition des Glücksbegriffs: Das "wahre Glück" sieht er in der Subjektivierung des Individuums, einem Prozess, der in vier Etappen von der Politik über die Poesie, die Philosophie und schließlich die Liebe verläuft.
Die philosophische Grundfrage nach dem Glück ist durch den kapitalistischen Imperativ des Konsums und dessen gesellschaftliche Realität, die Selbstgenügsamkeit, ausgeblendet worden. Einer Metaphysik bleibt dadurch der Weg versperrt. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, zeichnet Badiou die Subjektivierung als wesentlichen Prozess der Rekonstruktion einer Kategorie des Absoluten in vier Bereichen nach: die politische Emanzipation, die künstlerische Kreation, die wissenschaftliche Invention und die Alteration in der Liebe. Es geht Badiou um eine Teilhabe des Individuums am Absoluten (an den Wahrheiten), mithin um das Glück jedes Einzelnen.
Mit der Metaphysik des wahren Glücks gibt Badiou dem Leser nicht nur ein konkretes Werkzeug im Hinblick auf das eigene Glück an die Hand, sondern zeigt erneut die systematische Struktur seiner philosophischen Denkbewegung in brillanter, konzentrierter Form.

Alain Badiou, geboren 1937 in Rabat, Marokko, lebt als Philosoph, Mathematiker und Romancier in Paris.