Mehr Informationen zu «beat - me - mich» von Jörg Köppl, Tim Zulauf und ensemble metanoia (Premiere 17. Mai)
Videostill ©Dominique Margot
Hintergrund
Eine Gruppe von Menschen mit muskulärer Behinderung bemüht sich darum, an der Streetparade mit einem Lovemobile dabei zu sein. Als Thema für die Gestaltung des Wagens wählen sie den Begriff biomechanics, mit dem der Künstler H.R. Giger seine Bildwelt benennt, in der Körper- und Maschinenteile miteinander verschmelzen. Sie kommen darauf, weil es für sie eine Selbstverständlichkeit ist, dass Körperfunktionen von Maschinen übernommen werden. Während den Verhandlungen mit den Organisatoren verstirbt H.R. Giger, der kurz davor noch Interesse an einer Zusammenarbeit signalisiert hatte. Das Begehren wird aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Dies ist der Ausgangspunkt für ein Musiktheater, das über das Verhältnis zwischen Mensch, Maschine und Erotik aus der Perspektive von Adoleszenten erzählt, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind und bei denen das sexuelle Erwachen oftmals mit der Gewöhnung an ein Atemgerät einhergeht.
„Komm, wir machen einen auf Giger, wir haben doch auch so Schläuche und so.“
Dieser Satz ist zentral für unser Projekt. Aus ihm spricht eine Hellsichtigkeit für die Verknüpfung von Ästhetik und Emanzipation. Sich als Behinderter mit der Ambivalenz zu identifizieren, die Gigers Bildwelten auslösen, heisst, eine neue und unabhängige Position einzunehmen - jenseits von Mitleid oder Anklage. Dieser Satz ermöglicht es uns auch eine Musiktheater zu konzipieren, in dem den beteiligten Behinderten nicht die Rolle zufällt, Betroffenheit auszulösen, sondern in dem sich die Behinderten als Pioniere eines gesellschaftlichen Prozesses darstellen, in den wir als Individuen und als Gesellschaft unweigerlich involviert sind; denn ohne Patientenverfügung in der Hosentasche, kann es uns jederzeit passieren, dass wir uns urplötzlich in einer unauflösbaren Symbiose mit einer Maschine wiederfinden
Biomechanics
Der Emanzipationsprozess der Rollstuhlfahrer trifft auf die Geschichte des 2014 verstorbenen Künstlers HR. Giger, der trotz (oder wegen) seiner internationalen Popularität von der Kunstwelt zu Lebzeiten nicht anerkannt wurde. Unzweifelhaft kommt ihm eine Pionierrolle zu. Seine düsteren Visionen, in der Körper- und Maschinenteile provokativ miteinander verschmelzen waren der Zeit weit voraus. Uns interessiert besonders die Gleichzeitigkeit von erotischer Attraktion und maschineller Rohheit in seinen Bildern – dahinter lauert eine Sehnsucht nach Geborgenheit im keimfreien und wohltemperierten Maschinenuterus.
Videostill ©Dominique Margot
Transhumanismus und Xenofeminismus
Thematisch öffnet unsere Geschichte ein weites und aktuelles Feld: Der Transhumanismus (wie er beispielsweise von Ray Kurzweil vertreten wird) prognostiziert für 2045 eine sogenannte Singularität. Damit ist der Moment gemeint, in dem die künstliche Intelligenz (AI), die menschliche in allen Belangen überflügelt haben wird und es für substanzunabhängige Intelligenzen möglich sein wird, sich dank Nanorobotern in jeglicher Form zu materialisieren. Dieses evolutionäre Ziel wird über verschiedene Stadien erreicht, wobei der körperlichen Versehrung immer wieder die Rolle zufällt, diese Entwicklung sowohl zu rechtfertigt wie auch anzutreiben.
Explizit gegen die Kategorie der Natürlichkeit stellt sich der Xenofeminismus und sieht die Entfremdung als eine Folge des Freiwerdens: „Lasst Hunderte von Geschlechtern blühen!“ , „Nichts ist starr. Alles ist für radikale Veränderung empfänglich – materielle Bedingungen ebenso wie gesellschaftliche Formen“. „Die Queers und die Trans*-Menschen unter uns, sowie jene, die aufgrund von Schwangerschaft oder Pflichten in Verbindung mit dem Großziehen von Kindern diskriminiert worden sind, (von der Gesellschaft) behinderte Menschen und alle, die angesichts der herrschenden biologischen Normen für ‹unnatürlich› gehalten werden, haben Ungerechtigkeiten im Namen der natürlichen Ordnung erlebt.“, „Im Namen von Feminismus soll ‹Natur› nicht länger eine Zuflucht für Ungerechtigkeit sein oder eine Grundlage für irgendeine politische Rechtfertigung! Wenn die Natur ungerecht ist, müssen wir eben die Natur verändern!“
Die Banalität des Alltags
In diesen virulenten Zukunftsvisionen und ethischen Konflikten dienen uns Beobachtungen des Alltags als Leitplanken. Uns interessiert die Rhythmik der Interaktion zwischen Mensch und Maschine; Wie könnte sich etwa ein Bewusstseinsdownload anfühlen? Die Innenperspektive bleibt zentral, wie auch die Frage nach den Übrigbleibseln der Seele. Wie verschränken sich Körper und Geist, wenn ein Heimbewohner in letaler Phase Panikzustände hat? Er wird über Tracheostoma beatmet. Wohin führt uns die Vorstellung, wenn wir uns zu ihm legen und uns vorstellen, zu schwach zum Atmen zu sein; wenn wir uns vorstellen, wie die Atemmaschine unsere Lunge bläht und leert? Wie sind die konkreten Übergänge ausgestaltet? Wie haftet etwa ein künstlicher Darmausgang am Körper? Wie sind da die verschiedenen Kunststoffe in Form und Elastizität angeordnet und wie umfassen sie die spezifische Konsistenz der Narbe zwischen Epidermis und Darmhaut? Ein anderes Beispiel aus dem Alltag ist, wie präzise die Hand eines Duchenne-Patienten drapiert werden muss, damit sie den Joystick, mit der verbliebenen Kraft dirigieren kann – ein Prozess der Pflegenden wie auch Rollstuhlfahrenden viel Geduld abverlangt.
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BIOGRAPHIEN
Jörg Köppl
lebt und arbeitet als freischaffender Künstler und Komponist in Zürich. Ihn Interessieren gesellschaftliche Synchronisationsprozesse, die er in zumeist auditive Settings überträgt. Er konzipiert experimentelle Radio- und Soundprojekte, die an Festivals, wie der Ars Electronica, Artprospect (St. Petersburg) und Bienal de Sao Paulo oder in eigener Regie (Zürich und Kairo) aufgeführt wurden. Als künstlerischer Leiter des Ensemble Tzara 2015/2016 konzipierte er die Konzertreihe“ Tzürich - Interaktionshythmen in einer perfekten Stadt“, die unter anderem auf dem Bullingerplatz und in der „neuen“ Börse stattfanden.
http://www.audiokunst.ch
ensemble metanoia
Das ensemble metanoia wurde 2011 für die Aufführung des gleichnamigen Programms gegründet. Das Ensemble verbindet aktuelle Strömungen aus der komponierten, improvisierten und der elektronischen Musik. Performative und visuelle Ereignisse sind ein wichtiger Bestandteil der Programme. Weil kreative immer auch kollektive Prozesse sind, entstehen Werke in einer Wechselwirkung zwischen Konzeption, Improvisation und Komposition.
Silvio Cadotsch (Posaune), Sebastian Hofmann (Schlagzeug), Jörg Köppl (musikalische Leitung und Elektronik), Hans-Peter Pfammatter (Keyboards), Philipp Schaufelberger (Gitarre), Doro Schürch (Stimme), Lara Stanic (Flöte und Elektronik)
Zu den Darstellern*innen
Die Protagonisten und Protagonistinnen des Musiktheaters beat - me - mich bilden eine Lebensgemeinschaft, die im Mathilde Escher Heim in Zürich zu Hause ist ist. Ihre zumeist muskulären Behinderungen, oft Folgen muskeldystrophischer Gendefekte, machen sie früh von Rollstuhl und künstlicher Beatmung abhängig. Dies (be-)hindert sie sie aber nicht in ihrer Unternehmungslust: Sie treten als Partyveranstalter*innen, Sportler*innen, Autor*innen, DJs und anderes mehr in der Öffentlichkeit auf.
Tim Zulauf
lebt als Künstler und Autor in Zürich. Seit 2002 realisiert er Projekte mit dem offenen Netzwerk KMUProduktionen. Kritisch reflektiert und spekulativ erweitert werden dabei Arbeitsbegriffe und Umbrüche in sozialen Geflechten. So standen Sexarbeit in Zürichs Kreis 4, Diskriminierung von Bettelei in Venedig oder Arbeitsbedingungen in der Altenpflege im Zentrum der Arbeiten. ‹Der Bau der Wörter› und ‹Striche durch Rechnungen› erhielten 2010/13 Auszeichnungen der Stadt Zürich. Laufende Untersuchungen betreffen Rechtsprechung und Gegenerzählungen im Verhältnis Schweiz-Südafrika.
www.zulauf.it