Mehr Information zu «Die Endemiten» von der Digitalbühne (Premiere 27. April 2017)
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Im Gespräch mit Digitalbühne (anwesend Samuel Schwarz [sas] und Corinne Soland [cs])
Anke Hoffmann: Wer sind die Endemiten?
Digitalbühne: [cs] Die Endemiten sind eine Gruppe von Menschen, die auf einer Insel gestrandet ist. Und die nach der Ankunft, dem Aufbau einer neuen Zivilisation und einem alles umstossenden Konflikt ein neues System errichtet haben. Das Rudel der Endemiten heilt sich vom Vergangenen durch das Erzählen von vergangenen Geschichten und dem Wiederspielen - oder Wiedererleben - der Geschichten. Indem sie ihre Ankunft, den Aufbau der Zivilisation und ihren Konflikt noch einmal durchleben, sich kollektiv ins Bewusstsein rufen und sich damit befassen, reinigen sie sich davon.
AH: Wenn ihr von einem Konflikt erzählt und einem Neuanfang... welcher Ansatz ist das? Ist das eher ein Spiegel der Gesellschaft, in der wir leben, eine Parabel oder ein Ideal?
DB: [sas| Unser Theaterstück stellt eine geschlossene Laborsituation dar. Eben eine Insel. Eine endemitische Kultur ist ja abgeschlossen von der Aussenwelt… es schwemmt schon mal etwas an, aber durch Zufall. Es entsteht eine eigene Kultur. In dem Sinne ist es natürlich ein Modell, so wie ein physikalisches Modell. Man könnte sagen, bei einem physikalischen Modell versucht man das Modell durch Ausdifferenzierung immer mehr der Wirklichkeit anzupassen. Ich denke, das ist das Bestreben der Simulation, auch der Computersimulationen, dass sie identisch werden mit der Wirklichkeit. So perfekt, um damit Dinge im Voraus berechnen zu können.
Aber es gibt auch andere Modelle, das Kapitalismusmodell von Marx zum Beispiel. Das ist tatsächlich ein Modell - man kann damit gewisse Phänomene in der Wirklichkeit beobachten, die ähnlich sind wie das Modell. Aber es hat immer eine Unschärfe. Gewisse Menschen verhalten sich nicht, wie das Modell es vorhersagt und trotzdem hat das Modell hohen Wirklichkeitsgehalt. Unser endemisches Modell ist eher ein solches Modell. Es ist durch und durch künstlich.
[cs| Und in diesem Sinn hat dieses Modell auch ganz klare Regeln, Spielregeln: Die neue Herrschaft, die sich da installiert hat, nach diesem Massaker, diesem unglaublichen Streit, die ist unrealistischerweise unendlich weise. Und es besteht aus einem Rudel, es hat keine herrschende Wesen auf der Insel. Alle schreiben Texte zur Verarbeitung der Traumata. Die Person, die den Text vorliest und die Performance aus dem Off bestimmt - weiss nicht, von welchem Endemiten der Text ist; diejenigen, die den Text umsetzen müssen - in einer Art von Improvisation müssen sie auf den live gelesenen Text reagieren - werden durch ein Zufallsprinzip bestimmt; und sie verhalten sich zu diesem Text nach ganz klar definierten Regeln. Ebenso der Musiker und der Tonmischer. Das Rudel entscheidet danach auch über die Qualität des Spiels, intuitiv im Kollektiv ohne miteinander zu reden. In diesen Prozessen, sowohl im Nacherleben der furchtbaren Geschichte wie auch dem Evaluieren steckt eine heilsame Wirkung.
[sas] Es gibt auch Bestrafungen, wenn zum Beispiel eines der Endemiten einen Text so darstellen oder spielen würde, dass sich der Inhalt ins Gegenteil verkehrt, dann würde es in ein Quallenbad geschmissen oder mit glühenden Kohlen gefoltert. Die Endemiten erfinden permanent neue Strafen.
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AH: Ich finde es interessant, dass Aggression und auch Gewalt Teil der neuen Gesellschaft sind, weil sie zur menschlichen Natur gehören … aber es klingt martialisch...
DB: [sas] Ja, sie sind sehr martialisch. Sie erfinden immer neue Strafen und das macht ihnen Spass, da gibt es die Nasenschleifung, das Skorpion-Dessert - sie erfreuen sich darin auch an der Sprache - aber letztlich wird sehr selten jemand bestraft. Hier liegt eine Ähnlichkeit zur Wirklichkeit bei uns vor. Wir könnten ja auch nackt auf die Strasse rennen und dort tanzen. Wir machen es aber nicht. Denn wenn wir es machen würden, würde man uns in kürzester Zeit verwahren. Die Androhung von Bestrafung ist durchaus da. Im Foyer der Gessnerallee darf ich ja auch nicht rauchen, wenn ich es täte, würde ich rausgeschmissen.
AH: Das heisst, die Leute haben Angst vor der Bestrafung oder sie schämen sich?
DB: [sas] Nein. Da das Rudel der Endemiten, die Jury, die herrschende Macht konstituiert, ist auch hier davon auszugehen, dass die Endemiten unendlich weise sind, jedes einzelne Wesen. Die Endemiten machen böse Sachen nicht (mehr), weil sie wissen, wohin solche Handlungen führen. Sie haben ja das Massaker, diesen Konflikt, miterlebt. Deswegen gibt es bei den Endemiten ja auch Verbote. Sie wissen, dass es Verbote braucht. In den Regeln ist verankert, dass Diskriminierungen eines Wesens oder geschlechtliche Zuordnung beispielsweise nicht erlaubt sind, diese sind für die Endemiten rassistisch. In einem Text darf es also nicht heissen ‚die scharfe Biene’ oder ‚der kecke Jüngling’.
[cs| Die Texte müssen geschlechterneutral geschrieben werden, es heisst dann eher ‚das schwebende Wesen’ - aber nicht nicht das ‚grosse’ Wesen oder das ‚kleine’ Wesen weil solche Zuordnungen einen performenden Endemiten in ein Korsett zwingen würde, das durch eine Aussendefinierung erfolgt. Das ‚schwebende Wesen’ kann gespielt werden, die einzige Zuordnung erfolgt durch das Spiel und ist deshalb erlaubt.
[sas] In dem Sinne sind die Endemiten unendlich weise, weil sie wissen, wohin zuordnende Rassismen am Ende führen: Zur Macht des Stärkeren. Das haben sie miterlebt beim grossen Massaker nach der Ankunft. So beziehen sich die Endemiten auf einen grossen eigenen Erfahrungsschatz, aber natürlich auch auf Texte der Weltliteratur, die sie verinnerlicht haben, «Robinson Crusoe» zum Beispiel.
Probeneinblick (Anfang April 2017)
AH: Die Literatur liefert diese mehr oder weniger exotischen Vorbilder über die Persönlichkeitsentwicklung von Individuen auf Inseln, ausserhalb der Gesellschaft, wie eben «Robinson Crusoe» oder auch Kollektive... Haben euch solche Geschichten interessiert?
DB: [sas] Ja, alle diese Geschichten haben uns sehr interessiert. «Herr der Fliegen» ist natürlich auch eine Trauma-Geschichte, der Autor hat sich ja geheilt von den Gräueln des Zweiten Weltkrieges. Dann war auch Christian Krachts «Imperium» eine Inspiration. Auch der Film «Cast away» scheint uns wichtig, besonders die Szene, bei der Tom Hanks beginnt, mit dem angeschwemmten Ball zu sprechen. Dieser Ball namens Wilson ist für unser Inszenierungsmodell sehr wichtig, gerade weil Tom Hanks’ Figur immer weiss, dass der Ball kein Mensch ist. Das Publikum bei «Die Endemiten» ist zu vergleichen mit diesem Ball: Es ist ein nur imaginiertes Publikum. Die Endemiten machen ja alles nur für sich, für ihre Reinigung. Im Gegensatz zum von Brecht beschriebenen chinesischen Theater, bei dem das Publikum durch gestische Zuwendungen als anwesendes Publikum angespielt wird, gehen die Endemiten nicht von einem anwesenden Publikum aus. Sie sind zwar stark inspiriert von Brechts Idee des chinesischen Theaters und haben auch ähnliche, Brechtsche symbolische Gesten erfunden, aber das imaginierte Publikum, das sie anspielen könnten, ist bei ihnen nur eine zivililisationsstiftende, also befriedende Konzeption, das hilft, gedankliche Klarheit und Distanzierung herzustellen.
[cs| Die Endemiten nehmen die Vögel, die Tiere, die da zufälligerweise um sie herum sind und imaginieren sie als zuschauende Menschen. Die Tiere haben ja kein Bewusstsein für das Spiel der Endemiten, die können nicht geheilt werden. Die Endemiten heilen nur sich selbst. Natürlich entsteht dadurch auch ein Doppelspiel. Wie Tom Hanks weiss, dass der Ball kein Mensch ist, wissen unsere Performer auch, dass das Publikum keine Vögel sein können.
Zur Heilung ist auch wichtig, dass der Prozess, wer einen Text liest und wer ihn spielt, zufällig ist. Es gibt mehr als hundert mögliche Texte, am Abend werden sechs davon gespielt. Es ist auch oft so, dass die Endemiten den Text noch gar nicht kennen oder erst ein einziges Mal zuvor gespielt haben - in einer Probe, die vor Monaten stattfand. Die Texte werden in einer Kabine vorgelesen, es ist dabei nicht ausgeschlossen, dass diejenige Person, die den Text vorliest, auch die AutorIn des Textes ist - aber das ist selten. Ist der Text von einem Jugendlichen und wird von einem Erwachsenen gesprochen oder ist der Text von einem Erwachsenen und wird von einem Jugendlichen gesprochen?
[sas] Die Hierarchien lösen sich auf, man weiss gar nicht mehr, wer bestimmt: Ist es der Text, sind es die spielenden Wesen? Der Zuschauer ist es sicher nicht, er ist nicht Teil des Spiels. Er sitzt ja auch nicht in der Jury. Die Jury, das Rudel der Endemiten, bestimmt, durch den Glücks- oder den Trauertanz, ob das jetzt geglückt ist. Es gibt drei Tänze: das bühnenreinigende Trauerritual, wenn ein Spiel ‚missglückt’ ist (bei den Endemiten bedeutet missglückt, dass der Text oder das Spiel gegen die Regeln verstösst und so nicht zur Heilung beitragen kann), ein Glücksritual, wenn das Spiel geglückt ist und - weil sie sich gegen Dualismen wehren gibt es noch etwas drittes - einen Wuttanz. Der kann auch kommen, wenn es drei- oder viermal geglückt ist - ihre unendliche Weisheit verbietet den Wesen einfach, dual zu sein.
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AH: Jetzt habt ihr mehrmals von der Weisheit der Endemiten gesprochen. Das Stück ist eine Zusammenarbeit von erwachsenen Performer_innen und Jugendlichen des U16 Theaters Winterthur. Was steckt hinter diesem Mehrgenerationenabbild einer Gesellschaft und wie passen die Jugendlichen da in euer Konzept?
DB: [sas| D.W. Thoreau sagte mal: Es hat mir noch nie jemand etwas beibringen können, der älter war als 25. Thoreau und sein Buch «Walden» sind für uns sehr wichtig als Ausgangspunkt für «Die Endemiten» …
[cs| Es sind folgende Grundgedanken, die uns interessiert haben: Wenn eine Gruppe, die aus zwei verschiedenen Generationen besteht, auf einer Insel landet und einen Neuaufbau unternimmt - welche Generation würde welches System bevorzugen und sich wie und wo engagieren? Inwiefern spielt die unterschiedliche Lebenserfahrung eine Rolle, ergänzt sich das oder stehen sie sich irgendwann gegenüber. Kommt es überhaupt auf die Generation an oder darauf, welche Erfahrungen sie gemacht haben?
[sas| Viele Dinge, die in der Weltgeschichte passiert sind - leider oft die grausamen, aber sehr wahrscheinlich auch die guten, nur weiss man oft mehr von den grausamen - entstanden aus einer beispiellosen Zusammenarbeit zwischen alt und jung.
AH: Die Frage ist, wer wen da manipuliert...
DB: [sas| Als Beispiel vielleicht der Arabische Frühling, der leider wieder zusammengeknüppelt wurde, das war eine Revolution der Jugend. Im Gegensatz dazu ist beispielsweise die Kulturrevolution in China eine gezielte Machterhaltungsstrategie eines alten, schlauen Demagogen, der die Jungen manipuliert hat. Er will seine Macht erhalten, lässt aber die Jungen von der Leine, lässt sie Massaker begehen und lächelt dazu weise. Eine beispiellose Kooperation zwischen alt und jung. Jetzt müsste man schauen, gibt es nur diese furchtbaren Beispiele oder auch die guten? Und das wäre die Utopie, nach der wir suchen, wo alt und jung zusammen wirken.
In dem Sinn ist ein Modell, das sich auch auf frühere Modelle bezieht, jetzt wichtig. Dass man Inszenierungsmodelle wieder macht, die nur auf sich selbst verweisen. Um dann daraus Vergleiche zu ziehen, die vielleicht mit der Wirklichkeit zu tun haben. Und nicht mehr so wie in den 1990er Jahren oder Nullerjahren – nein, es hat auch schon in den 1960er und 1970er Jahren angefangen, als man das scheinbare Aussen auf die Bühne geholt hat und daraus ein Wahrheit generiert, die nach draussen strahlen soll. Das ist, glauben wir, vorbei. Dieses Übermass an Performanz des Authentischen. Die Theateravantgardisten haben ja schon mal zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesagt: der Naturalismus ist vorbei. Aber es ist erstaunlich, dass seit 15, 20 Jahren der Theaterbetrieb dem scheinbar Authentischen wieder so verfallen ist … Jetzt kommt eine neue Bewegung, das ist gut. Man interessiert sich wieder mehr für wissenschaftlichen Verfahren, Vergleichsverfahren und deswegen auch Modelle, die man an verschiedenen Orten machen und dann miteinander reden kann. Man muss die Wissenschaft nicht kopieren, aber Theater ernst nehmen. Das hier ist eine Art Vorübung für kommendes. Hier finden die Texte innerhalb eines Inszenierungsmodells statt. Aber es braucht auch innerhalb des Machtmodells Freie Szene verbindlichere Regelwerke, auf die man sich beziehen kann. Verbindliche Abmachungen und Regeln werden zwar tendenziell im Moment als spiessig und bieder verunglimpft. Hinter dieser Verunglimpfung von verbindlichen Regelungen steht aber ein Wille zur Macht. Die fehlende Verbindlichkeit dient denjenigen zu, die das Machtmonopol schützen gegen demokratischere Modelle - mit der scheinbaren ‚Authentizität’ als Waffe im Gepäck...
[cs| Wir denken auch, damit können wir auch eine andere Sensibilität und Sinnlichkeit erschaffen, gerade durch eine andere Direktheit als die der Authentizität.
AH: Ist das die Hoffnung, mit dem Stück eine Art des Sinnlichkeit zu erzeugen, die etwas überträgt...?
DB: [sas| Es ist natürlich nur eine Behauptung, dass die Endemiten so unendlich weise sind. Doch sie sind durch ihre Vorliebe für Regeln und Verbote nicht spiessig - sie kennen und wissen alles, über die schlimmsten und schönsten Dinge wissen sie Bescheid und würden auch nie etwas selbstzweckhaft verbieten, was - zum Beispiel - anrüchig ist.
Sie würden nur etwas verbieten, was ein Wesen unter ihnen re-traumatisiert. Die potentielle Bestrafung eines Endemiten, der extra etwas schreibt, das jemanden demütigt, gehört also dazu. Sonst hat die Ordnung ja auch keinen Reiz. Der Ton ist dabei ganz wichtig, dadurch transportiert sich auch eine Sinnlichkeit. Worte konstituieren ja die Welt. Die spielenden Wesen warten am Spielfeldrand, hören zu und greifen erst in die Geschichte ein, wenn sie das Gefühl haben, es gäbe eine Erweiterung dessen, was da ist.
[sas| Es geht auch um das Vertrauen, einfach etwas stehen und sein zu lassen, wie es jetzt gerade ist. Oder auch auf der Bühne zu stehen und einfach zusammen mit dem Ton präsent zu sein und anzunehmen und wirken zu lassen. Das ist eine Art sinnlich erfahrbares Statement gegen den dauernden Drang, performen zu müssen.
[sas| Die, die am Rand sitzen, müssen lernen, zu geniessen, dass sie eigentlich oft gar nichts machen müssen.
AH: Das probt ihr mit den Performern, das Nichtstun, das Aushalten, die Intuitivität oder hat das auch etwas mit dem Regelwerk zu tun? Wie reagiert wird und wer wie reagiert?
DB: [sas| Ja, das kann man schon üben, dass man in eine Zuschauerposition kommt, die Geschichte geniesst und den Ton sich selbst tragen lässt.
[cs| Wir nehmen die Regeln als Grundlage, erweitern diese aber auch und passen sie der sinnlichen Erfahrung der spielenden Endemiten an. Dadurch, dass jedes Spiel für sich steht und jedes Mal eine komplett neue Welt durch den Text entsteht, ist auch den Regeln keine Grenze gesetzt.
Hörprobe eines endemitischen Dramoletts:
https://soundcloud.com/user-612921532/polder-endemiten_das-wesen-der-sehnsucht
Das Regelwerk der endemitischen Modelle (document)
https://docs.google.com/document/d/1dWH5XpcEBk8zqE5-aHziiAMiHwTlVcZpvL64I8mIBrg/edit