Mehr Informationen zu «nicht schlafen» von Alain Platel (16. und 17. Juni 2017)
©Chris van der Burght
NDR.DE:
Es herrscht Einigkeit im Publikum: Alain Platels Projekt "Nicht schlafen" ist völlig faszinierend. "Ich glaube, Manches kann man nur tanzen und nicht sagen", meint ein Zuschauer, "und da hat man eine Menge heute hier entdecken können."
Der letzte Atem der Kreatur
von Andreas Wilink auf nachtkritik.de
Für Alain Platel, den gelernten Orthopädagogen aus Gent, und sein spirituelles, ergreifendes und rüdes Körpertanztheater hat der Begriff Erbarmen entschiedene Bedeutung. Das Integrieren einer sozial herben Wirklichkeit gehört zum Charakteristischen von Platels les ballets C de la B. Der Mann der Vorstädte, Heime, Straßen, Ghettos hebt Grenzen auf. Seine Tanzabende sind Befreiungstheologie – Passionsspiele mit österlichem Hoffen.
Mit "Nicht schlafen" zeigt das NRW-Festival Platels vierte Produktion, begonnen mit der Mozart-Suburb-Performance "Wolf", gefolgt von Monteverdis introspektiver "Marienvesper" und Pitíé! Erbarme Dich!, angelehnt an Bachs "Matthäus-Passion".
"Nicht schlafen" wurde inspiriert von Philipp Bloms "Der taumelnde Kontinent". In der sozialpsychologischen und kulturgeschichtlichen Betrachtung der Belle Epoque vor der "Urkatastrophe" des Ersten Weltkriegs kreieren Psychoanalyse, Industrialisierung, Technik und Wissenschaft, weibliche Emanzipation und die Künste das Experiment Moderne. Deren Provokationen, Skeptizismus, Formauflösungen etc. führen zur Verunsicherung konservativer Kräfte und zu allgemeiner Seelenverspannung, die wiederum in "aggressive Zurschaustellung von Männlichkeit, Militarismus, Imperialismus und Kolonialismus" umschlug und falsche Selbstversicherungen und die Hybris aus gefühlter oder tatsächlicher Schwäche beförderte.
Der kentaurische Pakt ist am Ende
Oft – zuletzt in Tauberbach – bildete für Platel die Musik von Johann Sebastian Bach den Echoraum. Hier nun ist es die von Gustav Mahler, des spätromantischen Krisen-Diagnostikers, des Juden im katholischen Wien, des Freud-Patienten, Chaos-Koordinators und Ekstatikers. Elemente aus seinen neun Symphonien (mit Ausnahme der Achten) werden eingespielt bzw. in Soundscapes zitiert und gemixt mit afrikanischer Musik, der Platel in der Arbeit zu seiner Produktion Coup Fatal begegnete.
Eine weitere symbolische Setzung sind Berlinde de Bruyckeres Skulpturen. Auf einer Holzpalette liegen vor einem den Bühnenraum begrenzenden zerschlissenen Vorhang drei präparierte tote Pferde wie Schlachtopfer auf einem Altar. Sie bezeugen das Ende des "kentaurischen Pakts" (Ulrich Raulff) zwischen Ross und Reiter, Herrn und geknechtetem Tier. Aus dem Kunstspeicher taucht sogleich Picassos "Guernica"-Gemälde auf, in dessen Zentrum ebenfalls ein zermartertes Pferd Leidensklage und -anklage erhebt.
Ins Verheißungsvoll-Ungeheure
Eine scharf umrissene Erzählung gibt es nicht. Platel und die aus acht Tänzern und einer Tänzerin bestehende brillante Compagnie entwickeln eine auf die Musik assoziativ reagierende, nie plan eindeutige, vielmehr in ihren Positionen divergierende und dadurch befreiend "freie" Szenenfolge. Uns begegnet der Mensch (der Soldat) als Außenseiter, wir erleben gruppendynamische Prozesse und extreme Psychomotorik. Die Versehrtheit der Kreatur, die Abweichung von der Norm bekommen Gestalt.
Kuhglocken, wie Mahlers Partituren sie enthalten, läuten ein Pastorale-Idyll ein, das für eine kleine Weile ein Ritual wie die Anbetung der Hirten möglich scheinen lässt, aber bald übergeht in Balgen, Zerren, Krallen und Sich-Verknäueln und Verklammern: Mann gegen Mann oder gegen Frau. Sie zerreißen sich gegenseitig die Kleider und ringen sich nieder, dass es eine Not hat. Auf die Tortur folgt, betörend schön, das wehmütige Adagietto der 5. Symphonie. Die Gruppe hebt die eine Hand wie Thomas Manns Tadzio im "Tod in Venedig", weisend ins "Verheißungsvoll-Ungeheure", bevor die gleitenden Bewegungen verkanten, konfrontativ und offensiv werden, erhobene Hände ein Sich-Ergeben andeuten oder den Moment vor dem Erschießungskommando, Leiber zucken und im Drill entgleiten. Im Gegenzug heben zärtlich tastende Berührungen und Vereinigungen wie auf einer Skizze von Egon Schiele den brutalen Zugriff auf.
Emotionale Wechselkur
Atemberaubend sind die Korrespondenzen zwischen Tanz und Musik in dieser Choreografie eines kontrollierten Ausnahmezustands: mit ausschwingenden Herzrhythmus-Störungen, beklemmender Mechanik und fast höhnisch eingefügten Spitzentanz-Figuren, mit vulgärem Rülpsen und schmerzbewussten Pas de deux wie in Zeitlupe. Wobei die Theatralik – parallel zu Mahlers selig zerrissenen "O Mensch"-Apotheosen – jede Faser gespannt hält. Das grelle Scherzo der Siebten ermutigt das Ensemble und bannt Ängste mit afrikanischem Singsang, kämpft sich frontal vor zum trompetend trumpfenden, klirrend martialischen Marsch-Takt der Sechsten. Gewalt erschafft Kriegskörper.
Die emotionale Wechselkur aus befriedeter Zartheit und Tändelei, stolzierender Siegesgewissheit, Glücks-Harmonie, meditativer Stimmung und dann einem An-sich-irre-Werden, psychischer Deformation, spielerischer Aggressivität und dumpfem Drohen mündet in den filigran furiosen Kampfruf der Zweiten mit der Erlegung des Tänzers David Le Borgne, der fortgeschleppt und gehäutet wird, sich weiter windet und mit einem Pferde-Kadaver kopuliert. Währenddessen haucht sich auf der Tonspur der letzte Atem der Kreatur aus, keckern Vögel, schnauben Säugetiere. Großartiger kann man der Krise einer Epoche und dem Bedürfnis nach Erlösung nicht Ausdruck geben. Platel hat ein vitales Mahnmal des Schmerzes errichtet.
©Chris van der Burght