Gessnerallee
Zürich

Mehr Information zu «ROUTINE» der Gruppe flouressenz (Premiere 4.03)

Szenenfoto


Im Gespräch mit fluoressenz (Ayla Pierrot Arendt, Samuel Fried, Émilia Giudicelli) zu ihrer Arbeit «ROUTINE a documentation of real time» (in deutsch und englisch)

Anke Hoffmann: Eure Arbeit heißt ROUTINE und ist auf 8 Stunden ausgelegt, wird es eine long durational performance?

fl Es ist eine 8-stündige Routine, aber keine long durational Arbeit, da es uns nicht darum geht, bestimmtes Material in der Dauer zu erschöpfen. Tatsächlich interessieren uns eher das soziale Zeitgefüge sowie die Interaktion der verschiedenen anwesenden Interessen, die während der gemeinsam erlebbaren 8 Stunden entstehen ...
It becomes real: the dramaturgy is not anymore an interesting concept but it becomes a real time experience that includes exhaustion, boredom, sudden excitement, beauty, encounters and normal needs like hunger and smoking breaks. We have elements that we use and re-use again… alles aufbauend auf der Routine, die wir hier in den letzten Wochen tatsächlich vor Ort entwickelt haben.

AH: Und wie sieht diese Routine aus?

fl Die Routine sieht für uns alle natürlich unterschiedlich aus, weil wir so arbeiten, dass wir nicht einander zuspielen, sondern dass wir für einander Spiel-Plätze bauen, in denen unsere Interessen aufeinanderstoßen und im besten Fall magische Momente – ein Zusammenspiel– produzieren. Das interessante ist, dass sich jede/r von uns immer wieder mit eigenen Routinen beschäftigt und manchmal eben von weiteren Mitspielern im Raum mit neuem Interesse affiziert wird. Alles greift ineinander und nichts steht für sich. Das ist wichtig. Die Routinen sind einerseits solche, die sich aus unserem Zusammensein herauskristallisiert haben, aber auch Routinen der Übersetzung alltäglicher Begegnungen in Japan.

AH: Hat das, so wie ihr es benutzt, etwas mit Alltag zu tun oder eher mit einem kollektiven, künstlerischen Prozess, den ihr hier zusammen erlebt?

fl Die Prozesse sind sehr verknüpft mit dem Alltag. Wir bauen auf einem „shared knowledge“ auf. Das heisst, dass alles was in diesen acht Stunden passiert, Kristallisationen von diesem geteilten Wissen sind, mit Ausführung im jeweiligen Medium, Tanz, Musik, Kochen, Raumgefüge, Licht, etc. Wir bauen an einer Überlagerung, also keiner einfachen Übersetzung von eigenen, persönlichen Erlebnissen oder Interessen. ... ROUTINE is not a „Inszenierung“, it is not a composition of scenes, it is a series of situations that are overlapping, shaping themselves, broken in time. The overall experience for the spectator should allow a reflection of their participation in this real time framed by our routine. The 8 hours build up on the three times 8 hours that divide our day: 8 hours for freetime, 8 hours of sleep and 8 hours of work. Our audience is investing their 8 hours of free time in this common experience but at the same time it should also be somehow an 8 hours space for reflection, contemplation, and spending time together, while we are meanwhile actually working for 8 hours. The overlap of these different temporalities produces moments of interaction, friction, relaxation and silence.

Szenenfoto

AH: Was ist der Unterschied zwischen der alltäglichen Konfrontation mit solchen Momenten der Irritation, der Berührung und Momenten der Plötzlichkeit und eurer Arbeit, die eine Atmosphäre einer sozial-kollektiven Situation erzeugen will – und was ist das grundlegende Interesse, das dahinter steht?

fl Die Idee hinter diesem Projekt ist die große Frage, wie kann man einer anderen, einer fremden Person, wie kann man dem Anderen begegnen. Mit dieser Frage sind wir drei auf eine Recherche nach Japan gegangen. In unserem ganzen Interesse geht es um die Begegnung mit „dem Anderen“ ohne über „den Anderen“ zu sprechen. Dabei versuchen wir etwas von den gesammelten Erfahrungen aus Japan zu übersetzen. Where is the encounter happening, when we as performers remain exotic, when we remain dancers and the other remains a visitor?

AH: Welche japanischen Erfahrungen?

fl Wir waren zu dritt fünf Wochen zur Recherche in Japan, sind dabei aber je alleine gereist und haben uns immer wieder getroffen und Essenzen der Erfahrungen haben wir dann im Sommer miteinander verarbeitet... Wir hatten alle drei verschiedene Systeme, wie wir dieser Fremde begegnen wollen. Und viele der individuellen Erfahrungen haben sich dann mit den anderen gedeckt. Es ist ja auch selten, dass man mit fremden Menschen längere Zeit miteinander verbring. Genau das haben wir in Japan versucht, mit verschiedenen Personen möglichst viel Zeit zu verbringen, und dabei geschaut, wie verbringt man diese Zeit miteinander und wie erhalten wir eine neue Sichtweise über sie und ihre Stadt, was sie für uns erfahrbar machen können.

AH: Und wie fiel die Wahl auf Japan?

fl Die Wahl fiel auf Japan, weil wir in ein Land reisen wollten, dass möglichst komplett anders ist als unsere westeuropäische Herkunft, aber kein Land ist, dass im Verhältnis zu uns durch den europäischen Kolonialismus geprägt ist. Wo wir als „die Weißen“ durch eine Geschichte schon vorgeprägt wären. Japan zeichnet sich durch eine sehr autarke Geschichte gegenüber Europa aus und ist eben dennoch westlich geprägt, also ein kapitalistisches Land.

AH: Und noch mal, warum wolltet ihr das genauso?

fl Wir wollten das – obwohl wir uns mit dem post-kolonialen Diskurs auseinandersetzen – in diesem Kontext nicht explizit thematisieren, also die Frage, wie wir als junge weiße Künstler_innen uns in dieser Hierarchie mit dem Fremden auseinandersetzen können, sondern es ging uns viel wesentlicher darum – aufbauend auf den Thesen von Trinh Minh-Ha – wie können wir jemand Anderem begegnen und etwas erleben, was uns möglicherweise fremd oder befremdlich vorkommt. Und wie können wir das verarbeiten, nicht indem wir darüber reden, sondern „to speak nearby“. Die Erfahrung also zu übersetzen, davon auszugehen, dass jegliche Begegnung auch hier im Theaterraum, auch hier mit uns, nicht darum geht, dass man „den Anderen“ in seinem* Unterschied erkennt, sondern, dass wir im Unterschied leben. Dass wir genau in dieser heterogenen Anlage von unterschiedlichen Interessen diese immer wieder artikulieren müssen und sie dadurch zu einem Beweg-Grund werden.

AH: Nun wart ihr in Japan und seid nun aber in Zürich. Wie thematisiert ihr hier die Begegnung mit dem Fremden oder dem Anderen?

fl We are continuing here! It’s not about us or the other ones, not about the audience or the artistic strategies, but about the dialectics of the In-Between, the meetings with the audience – and we don’t call them audience, we call them guests. That is already a difference.
Wir gehen gar nicht zu sehr von der Voraussetzung aus, dass das Theater überhaupt ein sozialer Ort ist. Der Theaterraum wird ja schnell zu einem sozialen Ort, einem Ort des Austausches erklärt. Wir gehen davon aus, dass jeglicher Raum erst mal ein feindlicher Raum ist. Wir thematisieren die Auseinandersetzung mit diesem Raum und mit der Zeit, die wir hier verbringen, diesen Raum gemeinsam zu erobern, unseren verschiedenen Interessen einen gemeinsamen Raum zu schaffen sozusagen.

Das Team von ROUTINE


AH: Das Besondere an der Kreierung einer vielgestaltigen Atmosphäre der Begegnung ist ja die Zeit. Ihr arbeitet nicht mit der üblichen Zeit einer Aufführung von ein, zwei Stunden sondern öffnet den Raum für ganze 8 Stunden für eure Gäste. Ist das auch ein gewolltes Risiko?

fl Warum Risiko? Wir verbringen hier jeden Tag 8 Stunden. Und das einzige was wir machen ist, dass wir allen Prozessen genau die Zeit geben, die es braucht. Wir beginnen mit der Erwartungshaltung unserer Gäste, dass bei der Öffnung des Raums etwas geschieht. Und es wird etwas geschehen in den 8 Stunden – sogar die ganze Zeit. Aber es geht nicht darum, dass wir hier Höhepunkte oder Dinge haben, die genau dann und nur so stattfinden müssen und spektakulär gerahmt sind. Sondern die Performer werden sich auch in ihrer Zeitlichkeit ganz alltäglichen Bedürfnissen widmen, genauso wie konkreten choreografischen Praktiken. Aber nicht in dem Modus „jetzt performen wir und jetzt nicht“, sondern sobald sich hier die Türen öffnen, geht unsere Routine jeden Tag von neuem los. Auch wenn das vielleicht ein Risiko ist, ist es genau das, wovon wir versuchen zu profitieren. Unsere Gäste bekommen also das, womit wir uns täglich 8 Stunden auseinandersetzen und das bestmöglich zugänglich gemacht. Eigentlich gibt es da kein Scheitern – höchstens Langeweile oder Reibung, und das sind beides Elemente, die wir von Anfang an mit einschließen. Es geht gerade darum, einander zu stimulieren, der Handlung des Anderen etwas hinzuzufügen, sie zu rahmen, sie zu schützen oder auch zu konfrontieren.

AH: Wie würdet ihr euer ästhetisches Konzept für den Raum und die Zeit darin erklären?

fl We are working along the process with the idea of documentation, the continuous movement of documenting ourselves. Our Body is a document in itself from the many experiences it goes through and the choreographic procedures trying to deal with these documents. E.g. the encounter with objects – as we have seen it in Japan – is very caring, very special. It is a consideration for the object that is different from ours. So we worked with the notion of de-hierarchization, e.g. how is the fabric, the sound or the room triggering our movements? It’s not only us manipulating objects, but also vice versa. This is a concrete procedure. How can we hold together as one body, move together? In Japan things were never completely still, the Stilleben were alive – pausing and posing at the same time. How can we e.g. reach such a state in between pausing and posing? These are very fine strategies of being influenced by Another. We are interested in choreographic procedures of translation. The interdependencies or flowing leaderships become exciting. ..
Ein Sound kann für eine Choreographie ausschlaggebend sein: wie spielen die Materialen oder das eigene Spiel dem zu? Welche Körperlichkeit hat z.B. der Windraum, woran erinnert uns das? Der Wind war sehr prägend für die Zeit in Japan und für uns war das eine interessante Erfahrung, weil der Wind auch den Sound und die Atmosphäre verändert hat.

AH: Wie stellt ihr euch das Verhalten eurer Gäste vor? Ich hab gehört, es wird auch Möglichkeiten geben, dass man trinken und essen kann. Wird es auch möglich sein, miteinander ins Gespräch zu kommen? Wie ist das Verhältnis zwischen aktiv und passiv?

fl ROUTINE besteht eben in einem Nebeneinander und Miteinander verschiedener Bedürfnisse und Interessen. Daher wird es auch Gelegenheit für Smalltalk oder eine gemeinsame Zigarettenpause auf der Brücke geben... Wir arbeiten immer wieder an der Rahmung füreinander. Wir erzeugen Situationen, in denen wir unserer unterschiedlichen Interessen bewusst werden können. ... We create a mobile space with a potential for change at all times. Routine describes a transition that is real. There will be a kitchen island, mattresses, most things are on wheels. We frame the gaze and the attention. Es wird viele Dinge geben, die wir nicht konkret vorhersagen können.

AH: Das heißt aber auch, dass es keine zentrale Perspektive im Raum geben wird, keine zentrale Performance, der alle gemeinsam folgen, sondern eine Vielfältigkeit, eine Gleichzeitigkeit von Situationen, die auf den Routinen und Erfahrungen basieren und verschiedene Aufmerksamkeiten erzeugen können, auch von zurück-lehnen und bei-mir-sein ..

fl Einer anderen Art des Zusammenseins ... ja, auch das Ausruhen wird ein Thema sein. Alles was man eben in 8 Stunden macht oder machen muss, gerahmt durch das gemeinsame Erlebnis – unsere Routine.

WEBSITE DER GRUPPE
http://www.fluoressenz.com/

Szenenfoto

Eine Referenz zu TOURIST von Emilia Giudicelli: